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das kulturelle überformat
Nr. 18 / 3. Oktober 2008
#Jacques Chessex
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literatur
Jacques Chessex

Was im Februar 1903 im kleinen, abgeschiedenen Dörfchen Ropraz im waadtländischen Jorat geschah, ist noch heute in seiner Grausamkeit kaum zu übertreffen. Als die 20 Jahre junge und bildschöne Rosa Gilliéron, Tochter des Friedensrichters, an Hirnhautentzündung stirbt, war dies Trauer genug für die Gemeinde. Die Beliebtheit der Familie und insbesondere der Tochter liess selbst aus der Ferne Menschen anreisen, um dem Gottesdienst beizuwohnen. Das Unfassbare geschieht aber dann in der folgenden Nacht. Das Grab von Rosa wird geschändet. Der Leiche wird der Kopf abgetrennt, die Brüste und das Geschlecht. Der Bauch ist aufgeschlitzt – mit Spermaresten übersät. Teile des Körpers werden angefressen rund um das Grab aufgefunden. Es ist ein Bild des Grauens, das der Fantasie keines Erfinders von Schauergeschichten in diesem Ausmass hätte entspringen können.

Und dies in einem Landstrich in dem die Menschen fernab von zivilisatorischer Aufklärung und unter härtesten Naturbedingungen ihr Dasein fristen. Es ist die Entbehrung jeglichen Glücks, das die Menschen zu Bescheidenheit treibt. Die Winter sind hart und die Seele getrieben von der Einsamkeit: «Die Angst geht um», schreibt Jacques Chessex. «Nachts spricht man Gebete zur Geisterbeschwörung oder Teufelsaustreibung. Man ist protestantisch bis auf die Knochen, bekreuzigt sich aber, wenn die vom Nebel gezeichneten Ungeheuer auftauchen.»

Die Geschichte von Rosa Gilliéron ist tatsächlich geschehen. Und noch im selben Jahr schreiben