Kein anderes Popmusikphänomen ist von der Unterhaltungsindustrie derart geschwind an die Kandare genommen worden wie Grunge. Im Spätsommer 1991 erschienen im Abstand von kaum einem Monat die beiden Alben, die den Trend definierten: «Ten» von Pearl Jam und «Nevermind» von Nirvana. Damit war der Sound und das Image dieser Rebellion auch bereits in Stein gemeisselt. In ganz Amerika schossen die Klon-Gruppen zu Dutzenden aus dem Boden. Zum ersten Mal seit Joan Baez, Bob Dylan, Jefferson Airplane und Konsorten hatte das amerikanische Musikbusiness einen Weg gefunden, Unzufriedenheit auf breiter Ebene zu vermarkten.
Im Weissen Haus sass ein Ex-B-Movie-Schauspieler mit dem Weltbild eines Spaghetti-Westerns. Die amerikanischen Pop-Charts waren angefüllt mit federleichter Zuckerwatte für die Kids (Tiffany, Rick Astley), höflichen Männergesängen für die Shopping Mall (Phil Collins, Kenny Loggins), balladenlastigen Stadienrockern für den Mittleren Westen (Boston, Heart) und Middle-of-the-Road-Soul für Verlobungsparties (Whitney Houston, Dionne Warwick). «Rock» im Sinne von Gitarren, Schlagzeug und Bass war fest in den Händen von Guns N’ Roses und all den anderen schrillen Post-Hardrockern von Los Angeles; mit ihren platinblonden Pudelfrisuren, gurkengefüllten Lederhosen und heliumgetriebenen Urschreien gaben sie perfekt geistloses MTV-Futter ab.
Rockmusik im Sinne von adrenalingetriebenem Selbstausdruck und trotziger Opposition gegen das Establishment gab es durchaus noch. Im «Underground» war aus Punk im Stil der Dead Kennedys «Hardcore» herausgewachsen: noch härter fetzten hier die Gitarren, noch schneller schlugen die Drummer, noch urtümlicher brüllte der Sänger. Militanz in Lifestyle-Fragen – ob Bakunin, Tätowierungen, Tierschutz, Veganer oder Witze über Ronald Reagan – gehörte