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das kulturelle überformat
Nr. 13 / 4. April 2008
#Kolumne von Ernst Molden, Wien
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gedankengang
Kolumne von Ernst Molden, Wien

Nachrichten aus der grossen Geisterstadt Wien (6)

Frühlingssachen

Erstens: Der Frühling greift auch nach Geisterstädten. Er lässt nichts aus. Er hat keine Tabus und kennt, wie man in Wien sagt, keinen Genierer.

Er nimmt mit seinem Wind die Geister und bläst sie auf wie Ballons.
Ein warmer Wind ist das, und das an einem Ort, der sechs Monate voll kaltem Wind war. Die Leute werden sonderbar, sie sind glücklich irgendwo da drin im Harnisch des Gürteltieres, aber sie können es nicht äussern, also werden sie erstmal aggressiv.

Der Frühling greift nach Wien. Vor ein paar Tagen stand der japanische Freundschaftsbaum im Stadtpark in voller unwirklicher Blüte. Der Freundschaftsbaum ist eine japanische Kirsche die eine japanische Stadt, ich hab unverzeihlicherweise den Namen vergessen, ihrer Schwesterstadt Meidling geschenkt hat.
Meidling ist nun genaugenommen keine Stadt sondern der zwölfte Bezirk von Wien, also steht der Freundschaftsbaum im Wiener Stadtpark, und ich, der ich genaugenommen kein Bruder aus der Schwesterstadt bin, kann mich trotzdem an ihm freuen. Dieser Kirschbaum ist ein surreales Gewächs, die blühenden Zweige kriegen vor lauter Dolden den Umfang eines Wrestler-Oberarmes, aber die Dolden riechen nicht. Sie riechen, wenn überhaupt, wie Papier. Und doch ist der Baum ein echter Baum. Ein echter Freundschaftsbaum. Vor sechs, sieben Tagen, als er so voll erblüht war, wandten sich die Touristen, namentlich die Japaner, von der üblicherweise in dieser Ecke aufgesuchten Goldstatue des Johann Strauss Sohn ab und dem geruchlosen Baum zu. Jetzt blüht er dürftiger, und Strauss muss wieder obsiegen.

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Text und Musik:
Ernst Molden