Jamaika statt der Berliner Herbstzeitlosen
Das Wetter draußen ist schon wieder zum Rilke-Vortragen. Bleifarben hängt der Himmel vor dem Fenster und sieht um zehn morgens so aus wie um vier mittags. Und dann ist es auch schon dunkel. So wird es nun bis etwa Mai bleiben und man kann mitzählen, wie sich mit zunehmender Dauer immer mehr Leute vor die U-Bahn werfen.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben. Wer jetzt keinen Jamaika-Flug hat, hockt bis nächstes Jahr im Kalten und schreibt Steuererklärungen, so wie ich die letzten beiden Wochen, als ich zugegeben recht verspätet versuchte, mein bescheidenes Leben seit 2001 für die Finanzbehörde zu rekonstruieren. So ähnlich steht es im Gedicht, weshalb ich nach Notation dieser Zeilen abfliege – zur Sonne, zur Freiheit.
Der Übergang in die graue Zeit macht sich, jedenfalls beim Wetterfühligen, auch dadurch bemerkbar, dass ein Tag wie der andere wird. Man mag zwar intellektuell und physisch wach bleiben, aber die Seele, jene geheimnisvollen 21 Gramm, die über Lächeln oder Prügeln entscheiden, geht in Winterschlaf und fühlt sich an, wie Sam Riley in «Control» guckt, wo er den Sänger Ian Curtis darstellt. Der, woran ja die letzte Ausgabe von TheTitle. erinnerte, zur Post-Punk-Wende Ende der Siebziger, also tief im letzten Jahrtausend, der gefeierten Band Joy Division vorstand. Curtis sang graue Texte zu grauer Musik, in allerhöchster grauer Intensität und erlitt dabei manchmal epileptische Anfälle. Nun hat der bekannte Rock-Fotograf Anton Corbijn einen schön schwarz-weissen, oder vielmehr grau–grauen Film über ihn gedreht. Der ist ziemlich gut geworden, auch wenn er etwas aufs Private verknappt ist, weshalb schon wieder alle mäkeln und Michael Winterbottoms