Anzeige
das kulturelle überformat
Nr. 8 / 2. Oktober 2007
#Interview mit Annie Lennox
  3/9
musik
Interview mit Annie Lennox

zum ersten Mal hörte, dass 17 Millionen Menschen in Afrika an Aids gestorben sind, war ich entsetzt. In den Worten Nelson Mandelas sind das «mehr Leute als in beiden Weltkriegen zusammen». Wie war es möglich, dass ich davon kaum was wusste? Den meisten Leuten ist das nicht bewusst. Ich stand also auf einer überlaufenen Strasse und schaute mich um, und ich sah keine alten Leute, nur Kinder, Teenager, Menschen in ihren Zwanzigern, vielleicht Dreissigern. Ich dachte mir: das ist furchtbar. Das ist ein lautloser Killer. Wenn so etwas bei uns passieren würde, würde in unserem Land der Notstand ausgerufen. Es verstört mich zutiefst, dass zur gleichen Zeit unser Teil der Welt in solch grossem Komfort lebt. Ich selbst bin das beste Beispiel für diesen Konsumwahn. Ich führe ein sehr vergoldetes Leben. Aber ich fühle mich besser dabei, wenn ich eine aktive Rolle spielen, Dinge aussprechen und meinen Beitrag leisten kann.

Sie studierten ja in London klassische Flöte, Ihre erste Band kam aber aus einer Post-Punk-Umgebung. Mit den Eurythmics lieferten sie dann einen wesentlichen Beitrag zum Mainstream-Soundtrack der achtziger Jahre, die als die Dekade der Gier in die Geschichte einging. Fühlten Sie sich denn dabei nicht entfremdet?

Doch, auf jeden Fall. Ich habe ja viele verschiedene Epochen erlebt, und wenn ich jetzt daran denke, ist es so eigenartig. Meine

frühesten Erinnerungen sind an die späten Fünfziger. Wir wohnten in einem Sozialbau. Es gab noch Bombenlöcher und Schutzbunker da, wo wir spielten. Und wir hatten lange keinen Fernseher. Wir wussten nie, ob mein Vater noch länger Arbeit haben würde. Er arbeitete in den Schiffswerften, dort gab es keine Sicherheit. Dann kamen die Sixties und ich erinnere mich, wie ich als Kind das erste Mal diesen Song hörte: «If you’re going to San Francisco...» Wow, da war was ganz Besonderes im Gange. LSD, die vielen bunten Farben, Paisley-Muster, Mary Quant, Biba und die Carnaby Street. Als ich schliesslich in den frühen Siebzigern nach London kam, war ich eine verarmte Studentin. Ich hatte absolut kein Geld, und das Leben in ständiger Untermiete war hart. In den mittleren Siebzigern kam die Rezession, dann gleich darauf die Thatcher-Jahre mit all der Arbeitslosigkeit. Das war ziemlich grimmig. Die Leute blicken jetzt zurück und denken sich, die Punk-Ära muss eine tolle Zeit gewesen sein. Aber ein grosser Teil davon war bloss leeres Posieren ohne echte Substanz. Es gab einen ausgeprägten Sinn für Nihilismus, jugendliche blinde Rebellion. Aber es war nur so wie bei schlimmen Kindern, es hatte keine wirkliche Konsequenz. Punk war ein grosser Spass für ein paar Leute und die Musik war zum Teil sehr aufregend. Aber ernst nehmen kann ich Punk ehrlich gesagt nicht. In der Musik ist das ja oft so. Sie kann zwar eine Inspiration sein, zum Beispiel für die Friedensbewegung, aber vieles daran ist nur politische Pose. Wir sind jetzt