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das kulturelle überformat
Nr. 20 / 5. Dezember 2008
#Kolumne von Ernst Molden, Wien
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gedankengang
Kolumne von Ernst Molden, Wien

Wieder in Wien haschen einander die Graus. Gehsteiggrau, Mauergrau, Gesichtsgrau. Nebelkrähengrau und Donaugrau. Die Rabenvögel und Tauben schneiden dunklere Bahnen in dieses Grau, wenn sie sich in ihren kahlen Baumkronen zum Schlafen zurückziehen, sich einpassen zwischen die wuchernden Mistelzweige, noch ein graues Gurren oder Krächzen in die Welt schicken, ehe die Nacht das Grau in ein vergilbendes Schwarz wandelt.

Der grosse Graphiker und Dichter Alfred Kubin muss seine zeitweilige Heimat Wien vor Augen gehabt haben, als er, glücklich nach München entkommen, seinen Roman «Die andere Seite» schrieb. Da errichtet ein geistesgestörter Krösus in einem auswegslosen Himalaya-Tal das perfekte Abbildd einer untoten europäischen Stadt und nennt  es «Perle». Ja. Wir sind Perle. Und gar nicht unglücklich. Der Wiener Mittwinter selbst tötet ja nicht, man stirbt eher vor Schreck, wenn man, sagen wir: im Juni an diese Tage zur dünkleren Sonnenwende denken muss. Jetzt tun wir ganz normal unser Werk. Wir leben unser Leben. Wir halten die Geisterstadt am Laufen. Wir gehen, halblaut schimpfend, mit unseren Kindern über die Weihnachtsmärkte, wir besteigen mit ihnen den künstlich verschneiten Rodelhügel im Prater, wir legen sie ins Bett und klettern in die Kellergewölbe unserer Kunst, dieser Tage sogar richtig gern, weil es zwischen Keller und Welt keinerlei erkennbare Unterschiede mehr gibt.

Sind wir nun unfreundlicher als sonst eh schon? Antworten wir brüsker auf Fragen aus der weiten Welt? Zeigen wir unser hässlicheres Gesicht?
Nein, ich glaube, das tun wir nicht: Schieben Sie's ruhig auf das grosse Grau.
Ich würde mit Nick Cave sagen, wir sind sogar «quite handsome, in a certain angle and a certain light.»
Ernst Molden




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vertont
von
Ernst
Molden

Musik: Ernst Molden /
Walther Soyka:
Arabesken in E
(Live im Flex,
November 2008)