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das kulturelle überformat
Nr. 27 / 15. September 2009
#Polnische Reportagenschule
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literatur
Polnische Reportagenschule

Mit Egon Erwin Kisch wurde die Reportage zur Kunstform – und der Reporter zu etwas Besonderem. Nur diesem ist es vergönnt, tagelang zu reflektieren, recherchieren, um darauf einen Text zu verfassen, der in der Flut von Nachrichten Ordnung in ein Ereignis bringt. Seit einigen Jahren führt der Königsweg des Journalismus jedoch immer mehr ins Abseits: Auf den Redaktionen in den USA und vielen Ländern Europas fehlt das Geld, die Artikel werden kürzer, die Leser haben keine Zeit mehr für ausgedehnte Lektüre. Für Reporter sind das denkbar schlechte Umstände, denn Reportagen kosten viel und sind zeitaufwändig. In der Zeit, die ein Journalist für die Recherche und das Schreiben einer Reportage benötigt, könnte er Dutzende Artikel schreiben. Der Reporter ist zum Auslaufmodell geworden.

Es gibt allerdings eine Ausnahme: In Polen wird die Reportagen-Tradition seit Jahrzehnten aufs Eindrücklichste gepflegt – trotz wirtschaftlicher Nöte. Wie ein Fels in der Brandung steht die Reportage-Abteilung der Gazeta Wyborcza (Wahlzeitung), mit einer Auflage von rund fünf Millionen Exemplaren die zweitgrösste polnische Tageszeitung. Jedes Jahr erscheinen im links-liberalen Qualitätsblatt und ihren Beilagen an die 300 Reportagen, seit der Gründung 1989 sind es schon mehr als 4’000 (eine davon füllt durchschnittlich zwei bis drei Zeitungsseiten). Nicht weniger als 12 festangestellte Journalisten und 40 ständige Mitarbeiter umfasst die Reportagenabteilung, in der es sogar möglich ist, mal einige Wochen oder Monate auszusetzen – und weiterhin seinen Lohn zu beziehen.