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das kulturelle überformat
Nr. 15 / 5. Juni 2008
#Interview mit Alanis Morissette
  4/7
musik
Interview mit Alanis Morissette

Das stimmt, andererseits kann diese Freiheit einen auch überfordern. Statt mit nur zwei Klangfarben zu malen, hat man zwei Millionen, die man auf seine Leinwand auftragen kann.

Thematisch wirkt «Flavors Of Entanglement» viel stimmiger als seine Vorgänger. Das Album hat etwas von einer Momentaufnahme.

Bis anhin habe ich zeitverzögert geschrieben und Erfahrungen verarbeitet, die manchmal Monate oder gar Jahre zurücklagen. Diesmal habe ich in Echtzeit gearbeitet. Auf «Flavors Of Entanglement» geht es um Gefühlszustände, die ich zum Zeitpunkt der Aufnahmen durchgemacht habe. Der Song «Not As We» handelt beispielsweise von der bodenlosen Traurigkeit, die ich just an jenem Nachmittag gespürt habe, an dem der Text entstanden ist. So etwas ist für mich neu.

Zwei Drittel der neuen Songs beginnen mit dem Wort «Ich», wo Sie früher viel mehr ein Gegenüber angesprochen haben. Was sagt diese Ich-Perspektive über die Songwriterin Alanis Morissette aus? Sind Sie heute selbstbewusster als beim letzten Album «So-Called Chaos»?


Früher habe ich aus der zweiten Person herausgeschrieben, so nach dem Muster «Du machst dies und das», aber heute kommt mir so etwas herablassend und herrisch vor. Ich kann es mir doch nicht anmassen, anderen

Leuten zu sagen, was sie tun und was sie lassen sollen, deshalb geht es auf «Flavors Of Entanglement» darum, mein eigenes Haus in Ordnung zu bringen. Der Song «Straitjacket» handelt zwar von den Projektionen und Erwartungen anderer Menschen, aber er ist die grosse Ausnahme. Mein erster Hit «You Oughta Know» mag so geklungen haben, als wollte ich andere Menschen an den Pranger stellen, aber in Wirklichkeit war dieser Song nur ein klingender Tagebucheintrag, der mir persönlich helfen sollte, Gefühle oder Erlebnisse zu verarbeiten, damit sie nicht irgendwann zu Tumoren in meinem Körper werden.

Im Song «Incomplete» bezeichnen Sie Gott als explizit weibliche Gestalt. Das dürfte einige Ihrer Zuhörer ärgern.


Es sind ja nur die Menschen, die Gott überhaupt ein Geschlecht verliehen haben. Das Problem ist nur, dass Gott immer als männlich dargestellt wird und sich die Frauen dadurch ausgegrenzt fühlen, weil es in unserer Kultur keine weiblichen Gottheiten gibt, mit denen sie sich identifizieren können. Ich persönlich glaube nicht, dass Gott männlich oder weiblich ist: diese Energie, die wir Gott nennen, findet sich in beiden Geschlechtern wieder.

Tori Amos hat diese Thematik ja auf ihrem letzten Album «American Doll Posse» aufgegriffen...