Mit anderen Worten: der soziale Umgang in London ist mit vielen Fallgruben versetzt. Nur die Einhaltung von vielen kleinkarierten Regeln schützt vor dem Sturz in den Keller. Dass man sich so pedantisch an diese Kleinkariertheit hält, wird mit der Angst zu tun haben. Die Briten tun sich sowieso schwer im Umgang mit Emotionen – die sind ihnen in der ruppigen Grossstadtschule ebenso ausgetrieben worden wie in den brutalen Internaten. Gerade wegen der gewaltigen Ausdehnung der Stadt und den damit verbundenen Schwierigkeiten, Freundschaften zu schliessen, wirkt die Anonymität und Isoliertheit, die jedem droht, der den Anschluss ans Gesellschaftsleben verpasst, umso beängstigender. Für viele bildet denn der Lokalpub (oder eben der Klub) die einzige Hoffnung, in der Grossstadt nicht zu versaufen. Je kleinkarierter der Ausblick, desto sicherer fühlt man sich. Dabei ist London nicht eine homogene Stadt mit organischem Zentrum. Vielmehr ist London dreissig Städte, alle mit eigenem Zentrum und Charakter, und zusätzlich umgeben von diversen Quartieren, so genannten «Villages» (es ist eine beliebte Methode der Immobilienhändler, eine Behausung attraktiv erscheinen zu lassen, indem man angibt, sie befinde sich in einer «village community»). In diesen Dörfern versteckt man sich dann hinter der Barrikade «Lokalstolz» und knallt Feuerwerke in die Luft, sobald einem etwas nicht passt, was im Nachbarquartier passiert. Oder aber man fährt jeden Abend in seinen exklusiven Klub, um über die anderen zu wettern.
Kurzum: je grösser die Stadt, desto kleiner das geistige Dorf, das sich viele Bewohner eingerichtet haben, damit sie es noch einigermassen aushalten. Und schon deshalb kann das winzige, aber aufgeschlossene, vitale, liberale Zürich punkto Dörflichkeit mit London in keiner Weise schritthalten…
Hanspeter Künzler