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das kulturelle überformat
Nr. 12 / 6. März 2008
#Jörg Steiner
  3/3
literatur
Jörg Steiner

verwundert die Augen reibt. Hier lauern sich Bewunderung und Abneigung gegenseitig auf, weil die Gegensätze nicht grösser sein könnten. Und das Ungewohnte des neuen Ortes wird für den Autoren auch nicht leichter, wenn er entdeckt, dass seine geliebte Schreibmaschine die Reise nicht überlebt hat. «Lange vor mir hatte jemand festgestellt, dass das Schreiben von Hand etwas anderes ist als das Schreiben mit den Fingern», schreibt Steiner. Selbst die gewohnte Arbeitsweise entzieht sich den veränderten Bedingungen. Damit wird der Akt der Aufzeichnung selbst zur neuen Perspektive.

Miles Davis hat einmal gesagt, das wichtigste in seiner Musik seien die Löcher. Also jene Töne, die er nicht spielt. Und vielleicht sind es gerade diese Töne, die in unserem Innersten am Lautesten nachklingen. Bei Jörg Steiner werden diese Töne auch nicht gespielt, wenn er gegen Ende eine ganz kurze Begegnung mit einer schwarzen Frau beschreibt: «Ihre Schönheit verschlug mir den Atem; es tat weh. Ein Stich ins Herz.» Mehr ist da nicht. Ein einziger Blick und eine Erinnerung fürs Leben. Hier spricht das Nichtgesagte lauter als das Gesagte. Und der Leser schreibt in seinem Kopf dieses Buch individuell zu Ende. Immer und immer wieder. «Mir kam es so vor», schreibt Steiner, «als werde Amerika jeden Tag neu erfunden. Hatte nicht schon Fontane gefragt, wie die Neufundländer-Hunde hiessen, bevor der Kontinent entdeckt worden war?»

Wie war das Leben, bevor der Kirschbaum zu blühen begann? Bevor dieses Buch geschrieben wurde? Bevor man es gelesen hatte? Deshalb: Raymond Carver. Und deshalb auch: Miles Davis. Vielleicht ist das Herz am Ende doch weisser geworden – weil es von Geschwätzigkeit verschont geblieben ist…


Jörg Steiner: «Ein Kirschbaum am Pazifischen Ozean». Suhrkamp Verlag. Bütten-Broschur. 85 Seiten € 12,80 / CHF 23,00
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