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das kulturelle überformat
Nr. 30 / 18. Februar 2010
#Interview mit T.C. Boyle
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literatur
Interview mit T.C. Boyle

menschlichen Identität finden konnte, weil ihm die Sprache fehlte. Die Forschung scheint in letzter Zeit bestätigt zu haben, was Noam Chomsky vermutet hat, nämlich, dass es im Alter zwischen zwei und fünf Jahren in der menschlichen Entwicklung eine Art Fenster gibt für die Sprache und die Sozialisierung. Wenn dieser Moment verpasst wird, können diese Vorgänge möglicherweise nie nachgeholt werden. Bei Victor kann man sich indes nicht sicher sein. Man kann aus den Quellen nicht schliessen, ob er möglicherweise autistisch war oder andere Probleme hatte. Daraus ergibt sich für mich die Möglichkeit, mein eigenes wildes Kind zu kreieren und dabei doch bei der historischen Vorlage zu bleiben.

Haben Sie die Novelle vor dieser neuen Veröffentlichung nochmal überarbeitet?


Nein. Sie steht genauso da, wie ich sie damals geschrieben habe. Für mich besteht die Freude am Schreiben von Fiktion in der Magie, eine Geschichte zu entdecken, und zu sehen, wie sie sich entwickelt und auflöst. So bin ich ständig auf der Suche nach der nächsten Geschichte. In meinem Essay «This Monkey, My Back» – er ist auf meiner Website nachzulesen – vergleiche ich das kreative Schreiben – und damit eigentlich jeden künstlerischen Prozess – mit dem High eines Junkies. Wenn man dieses Gefühl einmal erlebt hat, zum Beispiel dadurch, dass man eine Geschichte zu Ende geführt hat, will man

es gleich nochmals erleben. In meinen Augen gehören meine Geschichten in die Zeit, in der sie geschrieben wurden. Wenn ich fertig bin, bin ich fertig. Als ich 1998 den ersten Band der Gesammelten Kurzgeschichten herausgab, hätte ich daran sicher nochmals feilen können. Ich habe es nicht getan, denn die Geschichten sind in der Zeit verwurzelt, in der sie geschrieben wurden.

Gleichzeitig zeigt Ihre Beschäftigung mit dem Thema des Wilden Kindes mehr als dreissig Jahre, nachdem Sie sich anhand des Truffaut-Filmes zum ersten Mal damit auseinandergesetzt haben, dass wir es hier mit einer Geschichte zu tun haben, die Sie über die Jahre hinweg besonders stark fasziniert hat. Ich erinnere mich überdies daran, wie der Truffaut-Film in einer Zeit erschien, in der die anti-psychiatrischen Thesen von R.D. Laing vor allem auch in Hippiekreisen heiss diskutiert wurden. Laing vertrat ja mehr oder weniger die Meinung, dass Psychose ein vom Establishment erfundenes Krankheitsbild zur besseren Kontrolle des Menschen sei.

Mir gefällt Ihre Bemerkung von wegen «Hippiekreisen»! Ungefähr zur gleichen Zeit kam ja auch «Kaspar Hauser» von Werner Herzog in die Kinos, wo es um eine ähnliche Art von Charakter ging. Um jene Periode, die Sixties und die Seventies, und den Versuch, von der kapitalistischen Tretmühle