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das kulturelle überformat
Nr. 30 / 18. Februar 2010
#Interview mit T.C. Boyle
  3/7
literatur
Interview mit T.C. Boyle

den Romantext so, dass man erkennen konnte, worum sich ihr Werk drehte, ohne dieses im Anhang dann auch noch nachlesen zu können. Daraufhin schickte der Agent die jetzt separate Geschichte an Dave Eggers’ exzellentes Magazin «McSweeney’s», und ich bekam dafür sogar einen Preis zugesprochen. Nun hatte ich bereits dreizehn weitere Stories beisammen für einen neuen Kurzgeschichtenband, und ich verfiel auf die Idee, dieser Sammlung «Wild Child» quasi als Kernstück anzugliedern. Denn ohne dass dies geplant gewesen wäre, realisierte ich, dass all die Geschichten sich um eines meiner Lieblingsthemen drehten, nämlich um den Gegensatz zwischen der tierischen Natur des Menschen und seiner intellektuellen oder spirituellen Natur. Also um die Frage, was einen Menschen zum Mensch macht. Dem Buch ist ein Epigramm von Henry David Thoreau vorausgestellt. Es lautet «In wildness is the preservation of the world». Die deutsche Ausgabe von «Wild Child» unterscheidet sich allerdings von der amerkanischen. Im deutschen erscheint vorerst nur die Novelle «Das wilde Kind». Die restlichen Geschichten werden in einem anderen Zusammenhang erscheinen.

Ich nehme an, dass Ihnen der 1970 erschienene Film «L’Enfant Sauvage» von Francois Truffaut wohlbekannt ist?

Ja. Ich sah den Film damals, als er in die Kinos kam. Ich habe mir dann auch eine DVD davon

gekauft, aber angeschaut habe ich sie nicht. Ich wollte nicht, dass er mich bei meinem eigenen Vorhaben beeinflusste. An einige Stellen des Films erinnere ich mich allerdings sehr gut. Vor allem an jene Szene, in der Victor, der Bub, Kleider und Schuhe bestaunt. Für meine Novelle habe ich mich auf zwei Bücher bezogen, auf «The Wild Boy of Aveyron» von Harlan Lane und auf «The Forbidden Experiment» von Roger Shattuck.

Interessanterweise tritt der berufliche Ehrgeiz des Arztes Itard in Ihrer Geschichte stärker hervor, als ich das vom Film her in Erinnerung habe.

Wenn man einen vielschichtigen Charakter kreieren will, bewegt sich dieser eben in verschiedene Richtungen. Es stimmt, eines der Motive Itards ist es, berufliche Anerkennung zu finden. Das versuche ich ja mit der komischen Szene aufzuzeigen, bei der er das wilde Kind der High Society vorzuführen versucht. Diese Szene hat sich tatsächlich zugetragen. Das ändert nichts an der Tatsache, dass ihn das Schicksal von Victor stark berührt hat, dass ihm sein Wohl sehr wichtig war. Schliesslich hat er ganze fünfundzwanzig Jahre mit dem Versuch verbracht, ihn zu schulen – und das war eine unglaublich frustrierende Angelegenheit. Man könnte nun sagen, dass die Schulversuche mit Victor darum fehlschlugen, weil er sich ihnen als durch und durch wildes Kind widersetzte. Oder man könnte sagen, dass er nie zu einer