Integrität droht zu zerfallen. Gekonnt spielt er seine Rolle im Sicherheitsdienst herunter, stellt in seiner Autobiographie alles in ein für ihn vorteilhaftes Licht. Marcel Reich-Ranicki hat sein Leben immer wieder retuschiert, seine Biographie den jeweiligen Umständen angepasst. «Ein genialer Karrierist», sagt Wladyslaw Bartoszewski, ehemaliger Auschwitzhäftling und polnischer Aussenminister. Reich-Ranicki seinerseits sagt: «Ich wollte mich durchsetzen».
Ist ihm das zu verübeln? Im Ghetto will er nur eines: Leben und überleben. Seine Tätigkeit im Geheimdienst verteidigt er bis heute mit dem Motiv des Antifaschismus, zumal er sich damals endlich nützlich fühlt: «Man brauchte mich für eine ganz besondere Arbeit. Mir, der ich so lange untätig war, schmeichelte dies.» Nein, das ist ihm nicht zu verübeln. Offensichtlich scheint Reich-Ranicki niemandem geschadet zu haben, also muss er sich – auch als öffentliche Person – nicht über diese Abschnitte seines Lebens äussern, auch wenn sie aus heutiger Sicht fraglich scheinen. Marcel Reich-Ranicki will mit Polen, seinen polnischen Jahren, nichts mehr am Hut haben. Aus seinem Herkunftsland hat er nur die Sprache mitgenommen, die er mit seiner Frau und seinem Sohn spricht. Besucht hat er Polen seit seinem Wegzug nicht mehr.
Die Enthüllungen haben ihm nicht geschadet, der Jahrhundertmensch Reich-Ranicki bleibt unangetastet der «Herr der Bücher». Die Literatur hat ihm viel zu verdanken: Nach seiner Ankunft 1958 in Deutschland, wo er sich auf Anraten des Feuilletonchefs der Frankfurter Allgemeinen Zeitung den wohlklingenden