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das kulturelle überformat
Nr. 32 / 10. August 2010
#Porträt: Marcel Reich-Ranicki zum 90.
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literatur
Porträt: Marcel Reich-Ranicki zum 90.

Doppelnamen Reich-Ranicki zulegt und als Exot («Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude») eine Blitzkarriere hinlegt – schon nach 15 Jahren ist er Literaturchef der FAZ – revolutioniert er die Literaturkritik. Nicht schwerfällig und abgehoben schreibt er, sondern verständlich und mit Witz. Mit seinem «Literarischen Quartett» beweist er endgültig, dass die Vermittlung von anspruchsvoller Literatur unterhaltsam sein kann; immer denkt er an den Leser. Dabei gewinnt er eine Selbstsicherheit, die schon fast an Grössenwahnsinn grenzt: «Ich habe mich nie geirrt. Ich kann nicht über ein Buch, das ich vor 40 Jahren besprochen habe, heute sagen, ich hätte mich geirrt», sagte er einmal in einem Interview: Autoritäre Kritik gepaart mit enormem Wissen im Hintergrund.

Damit machte er sich nicht nur Freunde: Martin Walser und Peter Handke verarbeiten ihre Demütigung über negative Besprechungen mit literarisch fingierten Mordanschlägen auf den verhassten Kritiker, Walser im «Tod eines Kritikers» und Handke mit «Die Lehre der Sainte-Victoire». Auch zu Günter Grass und Max Frisch hat Reich-Ranicki kein einfaches Verhältnis. Letzter Ausdruck der enormen Machtfülle ist sein Kanon der deutschen Literatur: 50 Bände mit etwa 25’000 Seiten, die «ein gebildeter Mensch» seiner Meinung nach gelesen haben sollte. Wer darin verewigt ist, hat Reich-Ranicki entschieden. Er selbst habe sich als Kind eine solche Leseanleitung gewünscht, sagt er.

Nun ist er 90 Jahre alt geworden – und nach einem Leben im Zeichen der Literatur hat er der Literatur abgeschworen. Die meisten Regale in seinem Arbeitszimmer sind leer, verschenkt habe er die