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das kulturelle überformat
Nr. 32 / 10. August 2010
#Interview mit Philippe Auclair, Fussballphilosoph
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360°
Interview mit Philippe Auclair, Fussballphilosoph

benötigen immer Prismen. Sie sind nicht sehr gut darin, unmittelbar zu artikulieren, was sie fühlen. Sie brauchen einen bestimmten Rahmen, innerhalb dessen sie sich ausdrücken können. Sport kommt da sehr gelegen, und Fussball natürlich besonders, denn Fussball ist einerseits abstrakt, was die Taktik und die Organisation auf dem Feld angeht, andererseits auch zutiefst politisch, sehr emotional, und zumindest in England direkt verbunden mit der Herkunft der eigenen Familie.

Und die Briten dürfen beim Reden darüber ausnahmsweise hemmungslos gescheit sein, ohne dafür von ihren Mitmenschen mit Argwohn betrachtet zu werden.

Ja, das Wort «clever» ist eine Beleidigung in Britannien: «Du bist aber ein Schlauer.» Aber wenn man beim Reden über Fussball clever ist, respektieren einen die Leute. Wenn man schlüssig erklären kann, wie Steven Gerrard seine Position gewechselt hat, ist man ein toller Hecht. Das ist wirklich wichtig.

Ich glaube, an dieser Stelle sollte ich Ihr Cantona-Buch ins Spiel bringen. Das war als Bestseller angelegt und wurde auch einer. Aber Sie verfolgten dabei auch eine künstlerische Ambition. Glauben Sie, dass Sie in keinem anderen Land die Gelegenheit gehabt hätten, diese Ambition zu erfüllen?

Ja, das wäre sonst nirgendwo möglich gewesen. Auch nicht das Buch, an dem ich im Moment schreibe. Das ist noch eine Fussballerbiographie, und zwar über Thierry Henry, den ehemaligen Arsenal-Spieler. Natürlich wäre es sehr einfach, die ganzen Match-Reports und Interviews durchzugehen und daraus was zusammenzustellen, das wie eine Biographie aussieht und einen chronologischen Sinn ergibt. So etwas wurde auch schon gemacht und hat sich nicht besonders gut verkauft. Was wiederum einiges darüber aussagt, was für eine Art von Fussballbuch die Leute in diesem Land gerne kaufen. Auf der anderen Seite gibt es da auch einen wirtschaftlichen Aspekt. So ein Buch zu schreiben, braucht zwei bis drei Jahre. Sowohl was die Interviewpartner angeht als auch die Gründlichkeit der Recherche und die schreiberische Qualität. Cantona kostete mich drei Jahre, Henry wird zweieinhalb brauchen, wenn ich Glück habe. Wahrscheinlich drei. Nur in England könnte man einen Verleger finden, der einem diese Arbeitszeit bezahlt, zwar relativ schlecht, aber immer noch dreimal so gut wie überall sonst. Das gibt einem die Möglichkeit, den Job ordentlich zu erledigen. Ausserdem werden diese Bücher in seriösen Zeitungen rezensiert. Ich glaube nicht, dass viele Fussballbücher in der Süddeutschen Zeitung und in Le Monde besprochen werden. Mein Cantona-Buch wurde hier in jeder Qualitätszeitung behandelt. Und in allen