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das kulturelle überformat
Nr. 32 / 10. August 2010
#Interview mit Philippe Auclair, Fussballphilosoph
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360°
Interview mit Philippe Auclair, Fussballphilosoph

Wertvorstellungen etablieren wollten. Wenn man sich ansieht, wo die meisten grossen Vereine herkamen, West Ham zum Beispiel war die Mannschaft einer Giesserei, Arsenal das Team einer Kanonen- und Munitionsfabrik, Celtic und Manchester United wurden unter dem Schirm katholischer Kirchgemeinden gegründet.

Als philanthropisches Projekt.

Genau. Die meisten Vereine in England wurden von Philanthropen gegründet. Als ein Mittel dazu, «etwas Besseres aus sich zu machen». Das ist ein typisch britisches Sentiment des späten 19. Jahrhunderts, ob man sich nun in einer Blaskapelle betätigt, oder in einem Chor, oder im Fussball. Es war die Zeit der grossen Entwurzelung einer ländlichen Gesellschaft, die in die industriellen Zentren abwanderte. Im Fussball fanden diese Leute eine Gemeinschaft. Deswegen ist er für die Working Class bis heute als Bezugspunkt so wichtig.

Und dann wurde der Fussball nach Kontinentaleuropa exportiert, zum Beispiel über den Kanal in die Normandie: Was war dort Ihr lokaler Verein?


Der Le Havre Athletic Club.

Der heute noch in klassisch englischen Farben spielt?

Richtig. In Dunkel- und Himmelblau, den Farben von Oxford und Cambridge. Zugewanderte Engländer erschufen diesen Club und verliehen ihm die Farben ihrer Universitäten. Wir hatten in der Normandie immer ein enges Verhältnis zum englischen Fussball, das ist ein sehr spezifisches Phänomen dieser Gegend. In meiner Kindheit gab es noch keine Live-Spiele im Fernsehen, nur Bilder in der Zeitung, die wir ausschnitten und uns übers Bett hingen. Das war in den Sechzigern, George Best war mein absolutes Idol. Er war der fünfte Beatle, und er besass dieselbe erotische Aura wie die Popmusik jener Zeit. Für mich waren Popmusik und Fussball eng miteinander verwoben, ich sah da keinen Unterschied.

Patriotismus spielt doch eine grosse Rolle im Fussball, und damals hatten die Engländer gerade die WM gewonnen.

Wir taugten zu überhaupt nichts. England hatte uns bei der WM 2:0 geschlagen, unsere Vereine brachten in Europa nichts zustande, also blickte jeder Fussballliebhaber automatisch über den Kanal. Der Verein, bei dem ich damals spielte, US Quevilly, ein ziemlich berühmter Amateurclub in Frankreich, der es bis ins Cup-Halbfinale schaffte, hatte einen schottischen Starspieler. Für uns war das eine unglaubliche Ehre, einen Briten in Team zu haben. Er ging auch in dieselbe Schule wie ich, er war mein Held.