Anzeige
das kulturelle überformat
Nr. 32 / 10. August 2010
#Interview mit Philippe Auclair, Fussballphilosoph
  4/13
360°
Interview mit Philippe Auclair, Fussballphilosoph

Philippe Auclair, Sie sind ein Musiker und ausgebildeter Philosoph, der es sich ausgesucht hat, sein Leben dem Fussball zu widmen. Sie sind Franzose, aber Sie leben in Grossbritannien, wo Fussball eine ganz wesentliche Rolle spielt. Nicht dass er in anderen europäischen Ländern unwichtig wäre...

Nein, aber es ist schon was völlig anderes hier. Gar kein Vergleich.

Sind Sie deshalb hierher gezogen?

Nein, sondern der Musik wegen. Und wegen meiner Frau. Mit Fussball hatte das nichts zu tun, das kam erst später. Ich hätte in Paris ein Universitätsprofessor werden sollen, aber ich liess mich von der Musik anstecken, zog nach Brüssel, arbeitete dort als Küchenchef in einer Brasserie auf der Grande Place, schrieb nebenher Songs und nahm Platten auf. Dann traf ich ein paar Leute, unter anderem Mike Alway, der damals für Blanco y Negro Records arbeitete. Also ging ich nach London, um dort als Arrangeur und Songwriter zu arbeiten. Ich hatte überhaupt kein Geld, aber ich fand mich dort bald zurecht als Berufsmusiker. Mit anderen Worten: Ich lebte von der Hand in den Mund. Aber ich konnte machen, was ich am meisten liebte. Gleichzeitig war ich immer schon ein Fussball-Fan, was eigentlich ein bisschen eigenartig ist, wenn man meine Herkunft bedenkt.

Sie kommen aus der Normandie...

Ja, ich komme sozusagen aus der ländlichen Mittelklasse. In Frankreich hat Fussball ein starkes Stigma, zumindest damals war das so. Dass ich als Sieben- oder Achtjähriger Bilder von Fussballern sammelte, gefiel meinen Eltern nicht besonders. Wenn ein Fussballspiel im Fernsehen lief, drehten sie ab. Es war ein heimliches Vergnügen, ein bisschen so wie das Anhören von Rock'n'Roll-Platten. Als ich nach England kam, begriff ich, dass das ein Land war, wo man diesen Teil seiner Persönlichkeit zeigen konnte. Wo man bei Tisch darüber sprechen konnte, ohne schief angeschaut zu werden. In Grossbritannien würde einem so etwas nur passieren, wenn man auf eine Privatschule geht, wo nur Rugby gespielt wird und Soccer verpönt ist.

In manchen der nobelsten englischen Schulen wie der Westminster School oder in Charterhouse hat Fussball wiederum eine grosse Tradition.

Ja, es gibt einige britische Privatschulen, wo Fussball gespielt wird, aber oft nach eigenen Regeln. Zum Beispiel die Eton-Regeln. Das Paradoxon ist ja, dass der Fussball in England nicht in der Working Class, sondern in den Privatschulen der Oberschicht geboren und später durch die Schirmherrschaft der Kirche oder der Gemeinde weitergegeben wurde, die so in der Working Class ihre viktorianischen