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das kulturelle überformat
Nr. 32 / 10. August 2010
#Interview mit Philippe Auclair, Fussballphilosoph
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360°
Interview mit Philippe Auclair, Fussballphilosoph

der eine Fussball-Taktik-Website namens Zonalmarking.net betreibt, sowie einer, der an der London School of Economics Robotertechnik unterrichtet. Gemeinsam haben wir ordentlich getrunken und uns dabei über Fussball unterhalten. Ich dachte mir: Wo ausser in England könnte ich solche Konversationen über einen Hooligan-Zeitvertreib wie Fussball führen? Wir redeten über Dinge wie die Frame Theory. Warum ist es unmöglich, Roboter zu bauen, die menschliche Aktivitäten nachempfinden können? Warum ist es unmöglich, in digitalem Format nachzuempfinden, wie ein bestimmter Spieler einen Pass anwinkelt? Wenn man sich die Strömungen in der Kunstgeschichte ansieht, kann man im Fussball Spielweisen erkennen, die damit korrelieren, so wie im Schach. Wenn einer glaubt, Fussball sei eine Aktivität, die nichts mit den Dingen zu tun hat, die wirklich zählen, dann liegt er sehr falsch. Sie selbst stammen ja aus Österreich, sicher kennen Sie Matthias Sindelar.

Den Kapitän des österreichischen Wunderteams der Zwanziger und Dreissiger Jahre.

Genau. Ich sage Ihnen, die Donau-Schule des Fussball liesse sich etwa als der letzte Seufzer der freien künstlerischen Kreativität in diesem Teil von Europa vor dem Nazismus interpretieren. Matthias Sindelar ist ein Symbol dafür, was mit Österreich passierte. Aber auch

das, wofür Sindelar vorher stand. Seine Verbindungen zur Kaffeehausgesellschaft und damit zur Kunst und der Musik in Wien. Gut, er hinkte ein bisschen hinten nach, er hätte 1905 schon da sein sollen, er kam 30 Jahre zu spät. Aber die Verbindung ist eindeutig da. In England sind sich viele Leute dessen bewusst, und in Argentinien gibt es auch Leute, die so denken. Aber in Frankreich wäre das völlig inakzeptabel. Dabei ist die Tätigkeit, die mehr Menschen des 20. Jahrhunderts gefesselt hat als alles andere das Treten eines Fussballs. Abgesehen vom Sex vielleicht. Aber das Treten eines Fussballs ist die essentielle Erfahrung des 20. Jahrhunderts, nicht das Schiessen mit einem Gewehr. Doch wenn man sich eine Geschichte dieser Epoche ansieht, dann bleibt Fussball ausgeklammert. Haben Sie je Eric Hobsbawm getroffen?

Gelesen ja, getroffen nicht.

Ich bin zu Eric Hobsbawm nach Hampstead gegangen, als Begleiter einer Freundin, die eine Geschichtsprofessorin ist und ihn interviewen wollte. Sie stellte ihm all diese Fragen darüber, wie er dem Nazismus entgangen war, und ich dachte mir: Moment einmal, Eric Hobsbawm ist verrückt nach Fussball. Ich werde es immer bereuen, dass ich ihn nicht gefragt habe, warum er als Sozialhistoriker in seiner Geschichte des 20. Jahrhunderts («Das Zeitalter der Extreme: Weltgeschichte des 20. Jahrhundertshttp://www.louisphilippe.co.uk/