Für die einen ist Tori Amos ein Genie, für die anderen ist die US-amerikanische Sängerin und Pianistin eher ein Unikum. In Wirklichkeit ist die heute 43–Jährige eine ambitionierte Komponistin, die keine Angst hat, ihren beträchtlichen Talenten freien Lauf zu lassen – auch wenn ihr hoher Anspruch sie oft in schwierige Gewässer mit undurchdringlichen Metaphern und weiten Stilsprüngen führt. Ihr neues Album «American Doll Posse» zeigt einmal mehr, wie stark sich Amos seit ihrem Debüt «Little Earthquakes» (1992) weiterentwickelt hat. Anstatt wie damals ein kompaktes Selbstporträt zu malen, schlüpft Amos hier in die Rollen verschiedener Frauenarchetypen, die die Songs zwischen Rock und Elektronik aus sehr unterschiedlichen Perspektiven vortragen. Wie alles in Amos’ Œuvre entspringt dieses musikalische Psychodrama einer durchstrukturierten Strategie. Mit ihren selbstbewussten Gottheiten aus der griechischen Mythologie will Amos das patriarchalische Denken in den USA unterwandern und moderne Frauen inspirieren. Ob dieses wechselnde Rollenspiel zwischen der Kriegsgöttin Athene, der Liebesgöttin Aphrodite, der Fruchtbarkeitsgöttin Persephone und der Jagdgöttin Artemis ein emanzipatorischer Geniestreich oder nur eine aufwendige Kopfgeburt ist, das wird sich wohl erst auf der bevorstehenden Welttournee erweisen. Schliesslich will Amos ihre vier Alter-Egos Pip, Santa, Clyde und Isabel nicht bloss musikalisch (in den Songs), visuell (auf der Albumhülle) und virtuell (als Blog-Autorinnen) präsentieren – diese Figuren sollen sich auch auf der Bühne manifestieren. Wie Tori Amos und ihre Band diese Metamorphose live umsetzen wollen, stand zum Zeitpunkt unserer Begegnung* noch nicht fest.