Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst: das hat seinen guten Grund. Wir haben nie nach uns gesucht, – wie sollte es geschehn, dass wir eines Tags uns fänden? (…) so reiben auch wir uns mitunter hinterdrein die Ohren und fragen, ganz erstaunt, ganz betreten «was haben wir da eigentlich erlebt? mehr noch: wer sind wir eigentlich?»
Friedrich Wilhelm Nietzsche, aus «Zur Genealogie der Moral»
Ja, in Arnaud Desplechins neuem Film «Un conte de Noël» wird Nietzsche zitiert. Und im Fernsehen läuft die Szene aus «The Ten Commandments», in der Charlton Heston als Moses das Meer teilt, um die Kinder Israels zu retten. Aber vor allem wird dieser Film bevölkert von rund einem Dutzend Figuren, die allesamt ihren Teil zu einer ausserordentlich dysfunktionalen Familie beitragen.
Familienfeste haben Tradition im Kino. Meist finden sie auf der Leinwand während Thanksgiving statt – das Filmland USA ist geübt bei der Darstellung familiärer Zusammenkünfte, in denen alte Wunden aufbrechen. Doch dies ist ein französischer Film. Die Familie kommt nicht aus dem Mittleren Westen, sondern aus dem trostlosen Norden Frankreichs. Und in den zweieinhalb Stunden ihres Zusammenseins trinken sie mehr Wein und rauchen mehr Zigaretten als in zehn Thanksgiving-Filmen zusammen.
Es ist die Geschichte der Familie Vuillard, die gemeinsam Weihnachten feiert. Ob sie dabei aber auch zueinander finden, das steht auf einem anderen Blatt. Es ist der Vater Abel (Jean-Paul Roussillon), der den Nietzsche von der Bücherwand holt, um obiges Zitat seiner Tochter Elizabeth (Anne Consigny) vorzulesen. «Weshalb bin ich immer so unendlich traurig?», hat sie den Vater gefragt, worauf er sich ins Reich des Philosophen rettet.