«Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman.» Mit diesen Worten hat Marcel Reich-Ranicki vor mehr als 30 Jahren Martin Walsers Roman «Jenseits der Liebe» abgekanzelt – mit einer an Deutlichkeit nicht zu überbietenden Direktheit. So kennt man den «Literaturpapst». Doch er kann auch hochloben. Etwa, als er nach dem Tod von Wolfgang Koeppen den Nobelpreisträger Günther Grass in einem Interview zum wichtigsten lebenden Sprachkünstler in der deutschen Prosa kürt: «Mein lieber Günter Grass, Sie sind es, Sie sind doch der Grösste!» Man sieht ihn lebhaft vor sich, seine markante Mimik, seine Glatze, den erhobenen Zeigefinger; hört sein rollendes «rrr». Nie ist Marcel Reich-Ranicki um ein Urteil verlegen, getreu seinem Motto «Das Ziel der Kritik ist Deutlichkeit». So ist er bereits zu Lebzeiten zur Ikone geworden.
Seinen Werdegang hat Reich-Ranicki in der Autobiographie «Mein Leben» ausführlich beschrieben: Wie er, 1920 im polnischen Städtchen Wloclawek als Sohn eines polnischen Juden und einer deutschen Jüdin geboren, nach dem Bankrott seines Vaters mit neun Jahren nach Berlin zu Verwandten zieht. Wie er die deutsche Sprache lernt, nach dem Abitur als Jude nicht studieren darf, wie er 1938 nach Polen ausgeschafft wird. Dann der Überfall Nazideutschlands auf Polen, das Warschauer Ghetto, der Holocaust. Reich-Ranicki überlebt zusammen mit seiner Frau, schlägt sich durch, wird Kommunist – und geht 1958 nach Deutschland, wo er seine Leidenschaft zu seinem Beruf macht. Mit Erfolg: Ende der 1980er Jahre wird er mit der Sendung «Literarisches Quartett»