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das kulturelle überformat
Nr. 32 / 10. August 2010
#Interview mit Philippe Auclair, Fussballphilosoph
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360°
Interview mit Philippe Auclair, Fussballphilosoph

Was halten Sie eigentlich von all den patriotischen Fahnenschwenkern, die bei jeder WM in England so massenhaft in Erscheinung treten?

Ich gehe jedes Jahr zu etwa 100 Spielen. Seit 12 Jahren. Diese Art von Einstellung habe ich fast ausnahmslos nur bei England-Spielen gesehen, nicht bei Club-Spielen. Die Leute, die sich wirklich für Fussball interessieren, unterstützen Vereine und scheren sich einen Dreck um das England-Team. Ich war neulich erst in Wembley bei England gegen Mexiko, und ich sah mir die Leute auf den Rängen an. Viele der Fahnen kamen nicht aus den grossen Fussballstädten, sondern aus kleinen Orten wie Stevenage. Little England war nach Wembley gekommen. Diese Leute sind nicht dieselben, die ich sonst in den Stadien dieses Landes sehe. Alles hat sich so stark verändert. Viele Leute behaupten, dass sich vor allem die soziale Herkunft der Leute, die zu Fussballspielen gehen gewandelt habe, aber ich stimme damit nicht überein, selbst wenn die Karten teurer geworden sind. Die Leute, die zu den Spielen kommen, sind Fans eines Clubs, das ist eine Community, wo man singen kann und bis zu einem gewissen Grad tun kann, was man will. Es ist ein Statement des Dazugehörens. Nicht zu einem Land, sondern zu einem Club. Wenn man zu Millwall geht, einem Verein, der einen furchtbaren Ruf hat, dann wird man überrascht feststellen, dass es sehr viele schwarze oder asiatische Leute

gibt, die dort hingehen und in Gesänge mit einstimmen, die manch einer für verletzend halten könnte. Weil sie sehr unanständig sind. Aber Rassenkonflikte? Null. Ich höre Leute darüber reden, die nie dort hingehen. Weil sie Angst davor haben. Ich gehe zu West Ham, das bei grossen Derbys auch als gefährlich gilt. Da sieht man massige Typen mit Tätowierungen und rasierten Köpfen, und man denkt sich: Ah, die gehören wohl zur National Front. Aber es ist wesentlich komplizierter als das. Es ist ein Ort, wo man sein kann, wer man sein will, und für die Engländer mit all ihren Komplexen gibt es derer nicht viele. Es klingt vielleicht dumm, aber ich verbringe mein Leben mit diesen Leuten, und ich finde sie interessanter als viele andere, die ich sonst im Alltag treffe.


Philippe Auclair. Cantona – The Rebel Who Would Be King. Pan McMillan, London. Paperback. 456 Seiten. £ 8,99

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